Extremsportler Joey Kelly machte eine Deutschlandreise der besonderen Art: Er lief in 17 Tagen von Wilhelmshaven bis zur 2962 Meter hohen Zugspitze. Im Achilles-Interview erzählt er von quälendem Hunger, unheimlichen Nächten im Wald und den Vorzügen bayerischer Dörfer.
Achilles: Herr Kelly, Sie sind schon Hunderte Kilometer durch Wüsten und Eis gelaufen. War Ihr 900-km-Lauf durch Deutschland trotzdem härter als alles, was Sie zuvor gemacht haben?
Joey Kelly: Ja, der Lauf war für mich das Härteste. Ich habe nachts im Wald geschlafen und 17 Tage lang kaum Nahrung gehabt. Bei einem Wüstenrennen haut man sich zwischendurch einen Powerriegel rein und abends im Zelt gibt es warmes Essen, Kohlenhydrate satt. Aber auf meinem Weg von Wilhelmshaven zur Zugspitze habe ich nur das gegessen, was ich am Wegesrand finden konnte – das habe ich mir als Bedingung selbst auferlegt.
Wie sind Sie denn auf diese Idee gekommen?
Vor knapp 30 Jahren ist Überlebenskünstler Rüdiger Nehberg von Hamburg nach Oberstdorf marschiert. Das hat mich fasziniert: Wie man sich in Deutschland, wo es sich so bequem leben lässt, zu so einer Leistung überwinden kann. Diesen Kampf gegen den inneren Schweinehund wollte ich selbst erleben. Rüdiger Nehberg hat mir übrigens einen wichtigen Tipp gegeben.
Welchen?
Ich wollte eigentlich die Strecke im Lauftempo zurücklegen. Aber Nehberg hat mich gewarnt, dass ich so viel zu viel Energie verbrauchen würde. Also bin ich ganz langsam marschiert, vier bis fünf Kilometer pro Stunde. Trotzdem dachte ich nach drei Tagen vor lauter Hunger: Das schaffst du nie, bald gibst du auf. Aber irgendwann stellte sich der Körper um, und begann, sich von den Reserven zu ernähren. Der Hunger blieb zwar, aber dieser extreme Heißhunger verschwand.
“Eine Nacht auf Waldboden ist keine optimale Regeneration”
War es schwierig, in der Natur genug Nahrung aufzutreiben?
Die ersten 120 Kilometer war es schwierig, überhaupt sauberes Wasser zu finden. In Ostfriesland ist alles flach, zwischen den Feldern findet man zwar Wasserlöcher ? aber das Wasser darin ist grün und stinkt, Kühe trinken daraus. Auch was Essbares anging, musste ich erst mal dazu lernen. Ich dachte etwa, ich könnte mir auf Maisfeldern ein paar Kolben sammeln. Doch der Mais, der dort wächst, ist Viehfutter, nach zwei Kolben bekommt man Durchfall.
Was haben Sie stattdessen gegessen?
Kartoffeln habe ich immer mal wieder gefunden. Aber hauptsächlich gab es Pflaumen und Äpfel. Ich habe Essen mit ganz anderen Augen gesehen: Einmal habe ich einen Nussbaum gefunden, ein paar Nüsse gab es dann zur Belohnung am Abend. Die Nüsse waren in diesem Moment etwas ganz besonderes für mich.
Was war größer: die körperliche oder die psychische Belastung?
Die 900 Kilometer waren im Marschtempo für mich körperlich gut machbar. Aber dazu kamen noch sechs bis acht Kilo Gepäck, die ganz schön aufs Kreuz gingen. Und eine Nacht auf hartem Waldboden ist auch nicht die optimale Regeneration. Dennoch hätte ich vom Körper her sogar noch weiter laufen können. Aber was den Kopf angeht, hat es mir gereicht. Ständig war der Gedanke im Kopf, vielleicht aufgeben zu müssen. Bei einer Verletzung hätte ich ja schlecht tagelang im Wald liegen bleiben können. Erst als ich südlich von Augsburg war, habe ich gewusst: Scheißegal, was jetzt passiert, du läufst ins Ziel – auch wenn du eine Woche kriechen musst!
“Deutschland ist noch schöner als ich dachte.”
Was war das wichtigste Gepäckstück, das Sie dabei hatten?
Das Messer, um Obst zu schälen oder Würmer zu entfernen. Und die Stirnlampe für die Nächte im Wald.
War es dort unheimlich?
Die ersten Nächte habe ich ständig Tiergeräusche gehört, Hasen, Wildschweine, Mäuse. Es ist stockdunkel, man fühlt sich schutzlos. Aber irgendwann war ich abends so müde, dass ich mich einfach hingeschmissen und gepennt habe.
Sie haben Deutschland nun besonders intensiv kennen gelernt. Wo hat es Ihnen am besten gefallen?
In Bayern war es am schönsten. Die Landschaft ist wundervoll, die kleinen Dörfer sind so gepflegt – und überall gibt es Brunnen. Da steht zwar drauf: kein Trinkwasser. Aber das Wasser ist wie Gold. Kein Vergleich mit der Gülle in Ostfriesland!
Hat sich insgesamt etwas an Ihrem Bild von Deutschland geändert?
Ja, dass Deutschland noch schöner ist, als ich dachte. Bei unseren Konzerten mit der “Kelly Family” habe ich zwar schon früher viel von dem Land gesehen, aber auf der Wanderung waren die Eindrücke noch intensiver. Und ich habe noch mehr zu schätzen gelernt, in einem Land zu leben, in dem kein Krieg herrscht, und in dem man die Freiheit hat, selbst zu entscheiden, was man macht.
Welches Sportprojekt peilen Sie als nächstes an?
Im März laufe ich in Sibirien bei einem Ultra-Rennen 255 Kilometer über den zugefrorenen Baikalsee. Und im Sommer will ich Amerika durchqueren, in vier Wochen von San Francisco nach New York ? und zwar ganz ohne Geld.
Zur Person: Joey Kelly, Jahrgang 1972, war als Mitglied der “Kelly Family”ein Teenager-Idol. Heute kennte man ihn vor allem als Extremsportler. So absolvierte Kelly acht Ironman-Rennen innerhalb eines Jahres und fuhr beim Radrennen “Race Across America” rund 4800 km durch die USA. Über seinen Lauf durch Deutschland schrieb er das Buch “Hysterie des Körpers” (Rowohlt, 224 Seiten, 9,99 €).