Läufer*innen, die im Frühling einen Marathon laufen, stecken jetzt in der entscheidenden Trainingsphase. Der Sportmediziner Dr. Lutz Graumann erklärt, was man unbedingt beachten sollte und wieso manche Sportler*innen lieber die Finger von der Königsdistanz lassen sollten.
Achilles Running:* Herr Graumann, was macht den Unterschied aus zwischen Läufer*innen, die den Marathon unter drei Stunden laufen, und denen, die vier Stunden brauchen? Training oder Talent?
Lutz Graumann: Die genetische Komponente ist sicherlich wichtig; die Verteilung der Muskelfasern, die eine Rolle dabei spielt, ob man eher ein Ausdauer- oder Schnellkraft-Typ ist. Da trennt sich schon viel Spreu vom Weizen.
Ein weiterer Faktor, der sich aber sportmedizinisch kaum definieren lässt, ist die Trainierbarkeit. Bei fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung sind ernsthafte enzymatische Veränderungen oder Stoffwechsel-Veränderungen durch Training nicht nachweisbar – und damit keine klare Verbesserung der Leistungsfähigkeit. Warum das so ist, ist unklar.
Was spielt noch eine Rolle dabei, in welcher Zeit man den Marathon läuft?
Die Qualität des Trainings ist wichtig und ob es gelingt, Verletzungen zu vermeiden. Eine Frage ist auch: Wie vernünftig ernähre ich mich? Ich meine damit nicht die Zufuhr von Nahrungsergänzung, sondern die alltägliche Ernährung.
Der Körper braucht einen Mix aus Lebensmitteln, die Energie liefern, das Immunsystem schützen und die schnelle Regeneration, Zellersatz und Wachstum gewährleisten.
Viele Läufer*innen trainieren derzeit für einen Marathon. Was ist das Wichtigste, was diese Sportler*innen im Training jetzt beachten sollten?
Läufer sollten jetzt ihre Belastungsspitzen setzen, um dann rechtzeitig das Training wieder herunterzufahren. Ich vertrete zwar nicht die Ansicht, dass zu einer Marathon-Vorbereitung Läufe von 35 bis 40 Kilometern gehören – aber wer jetzt noch keine 25-Kilometer-Läufe gemacht hat oder einen Halbmarathon in Wettkampfgeschwindigkeit gelaufen ist, für den wird es eng.
“Der Körper muss auf den Marathon vorbereitet werden”
Kann man auch zu viel trainieren?
Sicher. Es gibt immer wieder Läufer, die es übertreiben und dann mit einem geschwächten Immunsystem beim Marathon starten.
Woran erkennt man, dass man zu intensiv trainiert?
Der praktikabelste Indikator ist der Ruhepuls. Ist dieser am Morgen höher als sonst, ist der Körper nicht ausreichend regeneriert. Und wenn wir von einem Läufer ausgehen, der den Marathon in rund vier Stunden laufen will, kann man sagen, dass ein Wochenumfang von 100 Kilometern zu hoch ist. Läufer dieser Leistungsklasse sollten eher darauf achten, drei Trainingstage pro Woche in hoher Qualität zu absolvieren.
Was meinen Sie mit “hoher Qualität”?
Man sollte einen Grundlagen- bzw. Regenerationstag einplanen mit 90-Minuten-Läufen deutlich unterhalb der anaeroben Schwelle. Das zweite Training, das ich empfehle, ist eine mittelintensive Einheit: 45 bis 60 Minuten, in denen man sich abwechselnd über- und unterhalb der anaeroben Schwelle bewegt.
Und dann heißt es, einen Tag Pause machen, bevor man die Intervalle läuft. Ich bin ein großer Freund von Intervalltraining, da es die Laktat- und Schmerztoleranz erhöht und somit schneller macht. Diese Einheit sollte etwa 35 Minuten dauern.
“Wer einen Trainingsplan einhält, ist auf der sicheren Seite”
Was ist im Hinblick auf den Marathon wichtiger: Trainingsumfang oder Trainingsfrequenz?
Ich sehe immer wieder Läufer, die zwar viele Kilometer gemacht haben, aber trotzdem nicht vernünftig vorbereitet waren. Der Körper muss grundlegend auf die Belastung vorbereitet werden, Bewegungsmuster und Kraft müssen geschult werden.
Außerdem brauchen Knochen- und Muskelapparat rund sechs Monate, um sich auf das höhere Leistungsniveau einzustellen – das Herz-Kreislaufsystem schafft das deutlich schneller, weshalb sich manche überschätzen.
Woran erkennt man, dass der Körper tatsächlich für den Marathon bereit ist?
Ich bin der Meinung, dass man eine Extrembelastung wie den Marathon, mit Hilfe eines Trainingsplans vorbereiten sollte. Wer so einen Plan gründlich einhält, ist auf der sicheren Seite. Wer nach bloßem Gefühl trainiert, erleidet dagegen womöglich Schiffbruch.
Unter welchen Umständen sollte man einen Marathon-Start absagen?
Bei Belastungsschäden, Entzündungen und schwachem Immunsystem sollte man unbedingt von einem Start absehen. Das Risiko eines dauerhaften Schadens wiegt schwerer als das positive Wettkampferlebnis.
Für manche Läufer*innen bricht dann eine Welt zusammen – wie geht man am besten mit diesem Frust um?
Neue Ziele setzen. Wer jetzt nicht für den Frühjahrsmarathon fit wird, sollte sich einen schönen Lauf im Herbst aussuchen. Es gibt aber auch Läufer, die grundsätzlich die Finger vom Marathon lassen sollten.
“Wer die mentale Stärke hat, schafft den Marathon”
Welche Läufer*innen meinen Sie?
Ich denke an Läufer, die viel Gewicht mitschleppen, etwa weil sie so veranlagt sind, dass sie schnell Muskelmasse bilden. Je mehr Masse man hat, desto schwerer wird es, diese über die Marathon-Distanz zu schleppen. Natürlich gibt es immer Ausnahmen. Wer die mentale Stärke dazu hat, schafft den Marathon – egal wie viel sie oder er wiegt.
Für manche Läufer*innen gilt: Nach dem Marathon ist vor dem Marathon. Wie viel Pause braucht der Körper nach so einem langen Rennen?
Bei schnellen, erfahrenen Läufern sind sechs Wochen Abstand zwischen zwei Marathons schon knapp. Ehrgeizige Läufer sollten sich auch fragen, ob der Körper bei kurz nacheinander liegenden Starts überhaupt zu einer vernünftigen Zeit fähig ist. Ich plädiere dafür, gezielte Saisonhöhepunkte zu setzen – und nach dem Marathon das Laufjahr lieber mit einem Halbmarathon abzuschließen.
Zur Person: Dr. Lutz Graumann, Jahrgang 1972, weiß, wie man Menschen für Extrembelastungen fit macht. Der Sportmediziner arbeitete für Spezialkräfte der NATO und ist seit 2005 Dezernatsleiter der Sportmedizin bei der Bundeswehr. Läufer*innen kennen Graumann als Autor von “Get fit to Run”.
*Um die Antworten der Interviewpartner*innen nicht zu verfälschen, werden lediglich die Fragen “gegendert”.