Für manche ist das Joggen vor allem deshalb so anstrengend, weil sie zu sehr damit beschäftigt sind ihre Unfitness zu kaschieren. Wäre ja beschämend, wenn jemand mitbekäme, dass man nur langsam laufen kann. Aber warum eigentlich?
Ärgerlich. Der Schuh ist schon wieder offen. Erstmal anhalten und in Ruhe schnüren. Doppelschleife, versteht sich. Die ist ja sehr kompliziert und muss intensiv überprüft werden. Und vibriert nicht grad das Handy? Ungünstiger Moment, aber da muss ich rangehen! Also langsam laufen und telefonieren.
Ich kann nicht mehr!
Wer kennt sie nicht, die geliebten Ausreden, um niemandem zu zeigen: Ja, ich laufe zwar gerade – aber ICH KANN NICHT MEHR! Ich bin total im Eimer und möchte jetzt einfach nur noch langsam sein!
Dazu stehen und das machen, was uns guttut? Können viele nicht – vor allem Laufanfänger*innen fällt das schwer. Denn eins steht ja vermeintlich glasklar fest: Alle Blicke kleben nur an uns. Die Frau da! Die mit dem Hund, die lacht doch grad über mich, oder? Und die Teenie-Gruppe am Spielplatz? Die schauen mir alle hinterher, weil ich so LANGSAM bin.
Und was passiert dann? Wir schämen uns. Wir wenden die heißgeliebten Ausreden an, um endlich mal anzuhalten. Oder: Wir rennen trotz fiesem Seitenstechen der vermeintlichen Blamage davon. Und die schlimmste Variante: Wir bleiben einfach ganz zu Hause.
Wir glauben, dass wir auffallen
Warum ist uns langsames Laufen häufig so peinlich?
„Weil wir unsere eigene Wichtigkeit überschätzen“, sagt Katja Cordts-Sanzenbacher, Diplom-Psychologin und ausgebildete Lauftrainerin aus Berlin.
„Das ist absolut menschlich und besonders beim Laufen ein Gefühl, das fast jeder kennt. Wir sind dann in keiner vertrauten Alltagssituation, tragen Sportklamotten, in denen wir uns vielleicht noch nicht ganz wohl fühlen, und machen dort Sport, wo andere einfach nur spazieren gehen.“ Kurz gesagt: Wir benehmen uns anders als die meisten und glauben, dadurch aufzufallen.
Und nicht nur vor fremden Blicken wollen wir uns perfekt präsentieren: Häufig beäugen wir uns selbst am kritischsten.
„Laufanfänger und Laufanfängerinnen müssen häufig feststellen, dass es eine Diskrepanz zwischen ihrem Selbstbild und ihrem Idealbild gibt. Sie wären gerne direkt sportlich und schnell unterwegs, müssen aber am Anfang ihrer Laufkarriere ein deutlich langsameres Tempo wählen, um nicht völlig außer Puste zu geraten.“
Katja Cordts-Sanzenbacher, Psychologin & Lauftrainerin
Nicht überfordern, sonst drohen Verletzungen
Doch gerade dieses Schneckentempo ist nicht peinlich, sondern vor allem für Laufneulinge absolut wichtig, sagt Dr. Pouria Taheri, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie in Berlin. „Wir sollten unserem Körper unbedingt Zeit geben, sich auf das neue, für viele ja ungewohnte Laufen einzustellen. Tun wir das nicht, überfordern wir uns.“
Und das passiere gerade Anfänger*innen häufig. Pouria Taheri: „Sie starten total motiviert mit schnellem Tempo, gehen heute laufen, morgen und übermorgen am besten auch nochmal.“ Statt der erträumten Höchstleistungen folge dann häufig ein buntes Allerlei an größeren und kleineren Wehwehchen: chronische Überlastungen, Muskelverkürzungen, Sehnenreizungen im Fuß, Rückenschmerzen, Blockaden und ganz einfach: Erschöpfung.
Immer dieses: höher, schneller, weiter
Doch wie kommt man weg von den hohen Erwartungen an sich selbst? Und wo kommt das eigentlich her? „Der Leistungsgedanke ist tief in unserer Gesellschaft verankert“, sagt Katja Cordts-Sanzenbacher. Es gehe letztlich immer um das Motto „Höher, schneller, weiter“ – im Berufsleben und eben auch beim Sport.
Wer kennt sie nicht, die beliebte Frage: „Wie schnell bist du gewesen?“ Schnelligkeit – das ist laut Katja Cordts-Sanzenbacher das, was in allen Lebensbereichen zählt. „Ich mach‘ das eben schnell“ – sagen wir alle vermutlich mehrmals am Tag. „Ich mach das mal langsam“ – dieser Satz existiert quasi nicht.
Schnell machen, Leistung zeigen, ganz vorne mit dabei sein – vor allem Läufer*innen, die sich beruflich diese Ziele auf die Fahne geschrieben haben, erleben beim Laufen häufig ein Schamgefühl. Laufcoach Katja Cordts-Sanzenbacher erinnert sich an einen Kunden, der nur früh morgens oder abends laufen ging. Also immer dann, wenn wenige Menschen draußen unterwegs waren. „Er konnte sich schwer eingestehen, dass er beim Laufen Schwäche zeigt“, erklärt Katja Cordts-Sanzenbacher.
Häufig sitzt die Scham beim Laufen aber noch tiefer. „Einige haben ungute Erfahrungen im Sportunterricht gemacht. Zum Beispiel wird Laufen häufig als Bestrafung eingesetzt“, sagt Cordts-Sanzenbacher. „Andere Lehrer lassen Schüler untrainiert einfach lospreschen, was natürlich schiefgeht.“ Das Ergebnis: Wenig Selbstbewusstsein und die Überzeugung: „Ich kann einfach nicht laufen.“
Für Gehpausen muss sich niemand schämen
Dabei sind wir alle als Läufer und Läuferinnen geboren, sagt Katja Cordts-Sanzenbacher. Dafür müsse man sich nur die Kinder ansehen. „Die gehen nirgendwo langsam hin, sie rennen. Kinder haben ganz natürliche dynamische Laufbewegungen.“ Mit der Zeit ginge das – vor allem durch das viele Sitzen – verloren. Und dann setzt das Dilemma ein:
„Viele glauben, Laufen müsse sofort funktionieren. Kann ja nicht so schwer sein.“ Was für ein Druck! Dabei erwarte doch auch niemand Perfektion von jemanden, der gerade mal zwei Klavierstunden hatte.”
Katja Cordts-Sanzenbacher
Pouria Taheri rät, diesen Druck rigoros aus dem Training zu streichen. Sein Tipp: „Sucht euch einen Laufpartner, der euch unterstützt!“ Zu zweit oder in der Gruppe sei vieles längst nicht so peinlich wie allein. Auch Gehpausen seien kein Grund zum Schämen.
Pouria Taheri: „Die sollte jeder machen, der sie braucht.“ Er selbst läuft seit Jahren regelmäßig und bezeichnet sich sogar bewusst als Langsamläufer. „Weil ich Laufen als meditativ empfinde. Das ist meine persönliche Quality Time, und deshalb ist mir daran auch nichts peinlich.“
Mal ehrlich: Es guckt fast keiner
Allen, die noch nicht so weit sind, um relaxt an die Sache heran zu gehen, empfiehlt Sportpsychologin Katja Cordts-Sanzenbacher, sich mit dem eigenen Schamgefühl auseinanderzusetzen.
Das geht am einfachsten mit drei Merksätzen:
1. Es guckt fast keiner.
2. Wenn doch: Es sind fremde Personen. Sind die uns wirklich so wichtig?
3. Warum gucken sie? Weil sie selbst nicht laufen! Meist stecken einfach ein bisschen Neid und schlechtes Gewissen dahinter.
Und was, wenn doch Sprüche kommen?
Aber wie reagieren, wenn es doch mal passiert? Langsames Laufen und dann: Blöde Sprüche oder Pfeifen will ja wirklich niemand hören. Katja Cordts-Sanzenbacher: „Ich habe mir mal einen Spaß daraus gemacht und angehalten, als Bauarbeiter mir hinterhergerufen haben. Ich erklärte, dass ich an einem Forschungsprojekt arbeite und herausfinden will, warum Menschen Läufern hinterherrufen.“ Die Reaktion: Schweigen im Wald und verdatterte Gesichter.
Im Regelfall würde sie aber so etwas eher ignorieren. „Ich laufe für mich und beschäftige mich lieber mit der Natur als mit anderen Menschen“, sagt sie. Wer Probleme damit hat abzuschalten, könne sich mit Podcasts, Hörbüchern oder Musik ablenken. Hier rät Pouria Taheri: „Aber bitte keine zu schnellen Beats. Wir passen unsere Geschwindigkeit automatisch an die Musik an, das ist kontraproduktiv.“
Und wenn trotz aller Tricks die Peinlichkeit bleibt? „Dann macht euch klar, dass jeder mal langsam angefangen hat“, sagt Pouria Taheri. Und für ihn steht fest:
“Läuferinnen und Läufer machen sich nicht übereinander lustig.“
Pouria Taheri, Orthopäde