Was macht den Reiz der Marathon-Distanz aus? Kaum jemand wusste das so gut wie Peter Greif, der über viele Jahre Läufer*innen auf die 42,195 Kilometer vorbereitete. Im Interview erzählte er, warum nicht jede*r Marathon laufen sollte und woran er Talente erkannte.
Achilles Running:* Herr Greif, am Sonntag starten wieder zehntausende Läufer*innen beim Berlin-Marathon. Erklären Sie uns: Was macht den Reiz der 42,195 Kilometer aus?
Peter Greif: Marathonläufer sind die modernen Helden. Sie brauchen keine dicken Muskeln und auch keine bildschönen Frauen vor Ungeheuern retten. Es reicht, die Furcht erregende Distanz einfach nur zu schaffen, dann ist man das Tagesgespräch der gesamten Büroetage.
Und da die Laienbevölkerung jedes Durchkommen honoriert, ist eine sportliche Statusanhebung eigentlich einfach. Auch wer unterwegs ein paar Kilometer geht, bleibt dennoch “the local hero”. Und da weniger als ein Prozent der Bevölkerung einen Marathon schafft, ist ein Marathonläufer in seinem Status auch kaum angreifbar. Er bleibt immer der positive Exot. Zumal jeder Laie, aus der Historie begründet, auch den Lauf um das eigene Leben im Hintergrund mitdenkt.
Es steckt also Archaik im Marathon?
Der Läufer, der im Rennen etwas erreichen will, ist physisch und psychisch nackt. Sein Leiden zeichnet sich deutlich in Mimik und Körpersprache ab. Bevor er kurz vor dem Ziel aufgibt, macht er sich notfalls lieber in die Hose. Das ist das größte Stück Nacktheit, mit dem sich ein Mensch in der Öffentlichkeit präsentieren kann. Und so etwas fasziniert die Zuschauer.
Wer einen Marathon läuft, muss viel Quälerei auf sich nehmen. Sollte trotzdem jede*r mal in ihrem*seinem Leben diese Distanz laufen?
Sicher nicht! Für viele durchschnittlich Begabte ist so etwas die Hölle. Besonders betroffen sind diejenigen, die eine ausgeprägte Schnellkraftmuskulatur besitzen. “Lange Laufen habe ich schon immer gehasst”, fluchen solche Leute. Sie werden es niemals auf sich nehmen, die nötige Anzahl an Kilometer zu laufen, um die Marathon-Distanz zu schaffen. Die fühlen sich dabei unwohl und überfordert.
Ganz anders verhalten sich hingegen die Menschen mit einem hohen Anteil an Ausdauermuskulatur. Da gibt es ganz erstaunliche Talente. Für die ist ein Marathonlauf ein Klacks. Dennoch werden wir wohl kaum jemals mehr als ein Prozent von der Gesamtbevölkerung einen Marathon laufen sehen. Zu hart und zu umfangreich ist die Trainingsarbeit.
Sie trainieren seit vielen Jahren Läufer*innen aller Leistungsklassen. Woran erkennen Sie, ob eine*r Talent hat?
An seiner Reaktion auf Training. Es gibt Läufer, die rennen nach einem halben Jahr die zehn Kilometer in 35 Minuten. Andere schaffen das in fünf Jahren nicht.
Was ist der Schlüssel dazu, solche Leistungen zu erbringen – gute körperliche Voraussetzungen, Fleiß oder mentale Stärke?
Alle drei Voraussetzungen sollten gleichmäßig vorhanden sein. Das Wichtigste aber ist der Wille, ein hohes Ziel zu erreichen. Und zwar unter dem Motto: Komme wer oder was da wolle!
Einer ihrer Schützlinge hat erst kürzlich ein hohes Ziel erreicht. Tobias Sauter, vor ein paar Monaten noch reiner Spaß-Läufer, lief bei der Leichtathletik-Weltmeisterschaft den Marathon. Warum hat er mehr erreicht als andere Freizeit-Sportler*innen?
Da muss ich erst einmal etwas korrigieren: Tobias war nie ein Spaß-Läufer im eigentlichen Sinne. Als er anfing zu laufen, wollte er schon siegen und so schnell wie möglich rennen. Da war weder eine Gesundheits-, Vorsichtigkeits- oder Genussidee dabei. Sauter ist also das Gegenmodell zu Achim Achilles.
Woran zeigt sich das?
Eine schier unglaubliche Geschichte beschreibt seine Härte gegen sich selbst: 2007 konnte Tobi für drei Monate keinen einzigen Schritt laufen, ein Muskel im Gesäß spielte verrückt. Er trainierte darum ausschließlich im Wasser.
Und jetzt der Wahnsinn: Er stieg von einem Tag auf den anderen aus dem Wasser, ging an den Start des Mittelrhein-Marathons und gewann diesen in 2:30 Stunden. Anschließend musste er noch schlimmer verletzt wieder rein in das flüssige Nass.
Wie meinen Sie das?
Vor einigen Jahren coachte ich Tobias Sauter beim Hamburg-Marathon. An der Strecke standen neben mir einige junge talentierte Läufer. Sie schauten, wie die führenden Afrikaner vorbeizogen. Ich fragte sie, warum sie denn nicht mitlaufen würden “Mich selbst juckt es immer noch mitzulaufen”, sagte ich, “und ihr, die es könntet, steht hier nur herum und lästert in das Feld.”
Einer antwortete mir: “Ich habe so oder so keine Chance, dazu habe ich die falsche Hautfarbe.” Ich dachte bei mir: “Du Arsch, fürchtest dich doch nur vor dem hohen Trainingsanspruch. Und du hast keine Idee, wie du gegen die Übermacht der Afrikaner ankommen könntest.”
Mal ehrlich: Haben Deutsche gegen die afrikanischen Läufer*innen denn überhaupt eine Chance?
Man hat immer eine Chance. Anderes Training, bessere Ernährung, geschicktere Vorbereitung und mehr Fleiß lassen immer noch unbeschrittene Wege offen. Nur probieren muss man es, sonst geht bei uns gar nichts mehr vorwärts.
Offenbar wird wenig probiert. Warum?
Wenn zurzeit ein Jugendlicher die 1500 Meter unter vier Minuten läuft, dann gilt er als Talent, das geschont werden muss. An ein Marathontraining für dieses sogenannte Talent wäre gar nicht zu denken. Wer es versucht, wird von der Trainergilde gemobbt.
Hierbei wird vergessen, dass man mit so einer Leistung als 18-Jähriger kaum die Chance hat, jemals an die internationale Spitze zu kommen. Warum aber muss er denn dann geschont werden? Um Deutscher Meister zu werden? Lohnt sich nicht, denn Deutscher Meister wird man, egal wie schnell man läuft. Hauptsache man ist vorn.
Zur Person: Peter Greif war einer der namhaftesten Lauftrainer Deutschlands. Bekannt wurde der Diplom-Braumeister, als er 1984 einen Marathon für “Dicke” gewann. Damals wog Greif 90 Kilogramm und lief die 42,195 Kilometer in 2:33 Stunden. Ab 1991 trainierte er im “Greif-Club” tausende Läufer*innen aller Leistungsniveaus. Am 30. Juli 2018 verstarb Peter Greif im Alter von 75 Jahren.
*Um die Antworten des Interviewpartners nicht zu verfälschen, werden lediglich die Fragen “gegendert”.