Unser Körper weiß am besten, was gut für ihn ist, sagt Gesundheitswissenschaftler Thomas Frankenbach. Er hat seine eigene Ernährungsform entwickelt. Statt stur Diät-Tipps zu befolgen, sollte man lieber die eigene Körperwahrnehmung stärken.
Achilles Running: Herr Frankenbach, hören wir zu wenig auf unser Bauchgefühl?
Thomas Frankenbach: Ja, leider. Wir leben in einer Welt, in der Logik mehr wert ist als Intuition. Wir bedienen jeden Tag Maschinen, sitzen vor dem Computer, telefonieren mit Smartphones – da ist logisches Verständnis wichtiger als unser Bauchgefühl. Leider führt die Reizüberflutung der westlichen Industriegesellschaft teilweise so weit, dass wir die Signale unseres Körpers gar nicht mehr wahrnehmen.
Warum fällt es uns so schwer, die Signale unseres Körpers zu beachten?
Ständig hören wir in den Massenmedien von einer neuen Ernährungsform, die angeblich die beste sein soll. Vor fünf Jahren war es die vegane Ernährung. Dieses Hin und Her verunsichert die Menschen.
Ein Beispiel: Viele Menschen essen Vollkornprodukte, weil sie der Überzeugung sind, Vollkorn sei gesund. Tatsächlich gibt es aber viele Menschen, die Vollkorn gar nicht vertragen. Sie bekommen Bauchschmerzen, Blähungen oder schlimmere Symptome und ignorieren die Signale, die ihnen der Körper sendet. Sie vertrauen nicht auf ihre somatische Intelligenz.
“Durch Sport lernt man den Körper kennen”
Was genau verstehen Sie unter somatischer Intelligenz?
Somatische Intelligenz ist die Fähigkeit unseres Körpers, durch Lust, Abneigung und Bekömmlichkeit zu zeigen, was er braucht und was nicht. Jeder Mensch braucht zum Beispiel Zucker, um das Gehirn laufen zu lassen und Organe und Muskeln zu versorgen.
Wenn Menschen unterzuckeren, bekommen sie Lust auf Süßigkeiten. Da müssen sie keine*n Ernährungsberater*in anrufen oder im Lexikon nachschauen, sondern ihr Körper sendet ein eindeutiges Signal, nämlich Heißhunger auf Süßes.
Viele Menschen haben aber ein schlechtes Gewissen, wenn sie ihrem Heißhunger auf Süßigkeiten nachgeben.
Ja, aber ein schlechtes Gewissen sollte man deshalb nicht haben. Besser wäre es, sich zu fragen: Warum will ich das jetzt essen? Brauche ich das wirklich? Wenn jemandem etwas nicht bekommt, wird der Körper dies mitteilen, in Form von schlechter Bekömmlichkeit mit Blähungen, Sodbrennen, Bauchkrämpfen, unruhigem Magen oder verschlechterter Stimmung. Langfristig oft auch Haut und Haaren.
Wie sieht Ihrer Meinung nach eine richtige Ernährung aus?
Unsere Bedürfnisse sind individuell ganz verschieden. Die optimale Kost ist deshalb die, auf die ein Mensch Lust hat, die schmeckt und wohltut. Manche Kinder essen zum Beispiel ungern Spinat. Das könnte zum einen daran liegen, dass sie ihre Eltern zum Narren halten wollen. Es könnte aber auch sein, dass diese Kinder Spinat einfach nicht besonders gut vertragen, weil darin Oxalsäure enthalten ist. Diese kann bei bestimmten Menschen Nierensteine verursachen oder die Blutgerinnung stören.
Es klingt so einfach: Essen, wonach dem Körper ist. Aber woher kommen dann die vielen Ess-Störungen wie Magersucht oder Fettleibigkeit?
Magersüchtige haben häufig eine schwach ausgeprägte Selbstwahrnehmung. Sie denken, dass sie zu dick sind, obwohl sie spindeldürr sind. Bei Übergewichtigen ist es ähnlich. Ich hatte mal einen Patienten, der ständig Süßigkeiten gegessen hat.
Er war zu dick und litt gleichzeitig unter Bauchschmerzen, Übelkeit und schlechter Haut. Statt ihn auf Diät zu setzen, habe ich seine Achtsamkeit trainiert. Aufgabe war, sich auf seinen Magen zu konzentrieren, nachdem er sehr viel Süßes gegessen hatte. Als ihm so mit den Wochen immer stärker auffiel, wie schlecht ihm Süßigkeiten bekommen, reduzierte er sie von allein.
Wie kann ich lernen, meinen Körper besser zu spüren?
Alles, was uns zur Ruhe kommen lässt, wirkt sich positiv auf die Körperwahrnehmung aus. Da helfen zum Beispiel Meditation, Yoga oder autogenes Training. Auch Ausdauersport ist ein hervorragendes Mittel, um den Körper besser spüren zu lernen.
“Sportler*innen haben einen siebten Sinn”
Sport schärft die Selbstwahrnehmung?
In dem Moment, in dem wir unseren Trainingszustand verbessern, fängt unser vegetatives Nervensystem an, effizienter zu arbeiten. Außerdem schult man durch Sport seine Koordinationsfähigkeit, Tiefensensibilität und die Atmung.
Manche Sportler*innen haben sogar eine Art siebten Sinn. Sie können ganz genau wahrnehmen, wenn sich in ihren Körpern etwas verändert. Ganz intuitiv lassen sie beispielsweise eine Trainingseinheit ausfallen, weil sie merken, dass sich eine Grippe anbahnt, noch lange bevor die ersten Krankheitssymptome auftauchen.
Wie kann ich außerdem meine Sinne schärfen?
Es gibt eine ganz gute Übung, die man direkt nach dem Essen machen kann. Man zieht sich für ein paar Minuten zurück, schließt die Augen und stellt sich folgende Fragen: Wie groß war meine Lust auf das, was ich gegessen habe? Hat mich der Geschmack angesprochen? Wie bekommt es mir im Bauch? Wie ist meine Stimmung? Habe ich womöglich zu schnell gegessen? Wer sich dieser Übung ein paar Mal hingibt, wird schnell merken, wie sich die Sensibilität für den Körper verbessert.
Müssen wir mutiger werden, mehr auf unseren Körper zu hören?
Somatische Intelligenz ist kein Garant, dass ein Mensch gut durchs Leben kommt. Aber sie ist ein wichtiger Faktor. Wichtig ist, dass jede*r sein persönliches Maß findet. Das gilt für Sport, Beruf und Ernährung. Wir müssen mehr Selbstverantwortung übernehmen.
Zur Person: Thomas Frankenbach, Jahrgang 1973, hat Ernährungswissenschaften sowie psychosoziale, integrative und komplementäre Gesundheitswissenschaften studiert. Er betreut Spitzensportler*innen psychologisch und berät sie in ihrer Ernährungs- und Trainingsgestaltung. 2014 veröffentlichte er das Buch “Somatische Intelligenz – Hören, was der Körper braucht“.